
AK Nr. 37 - Spagat
Wie immer in unserem Metier gibt es für Investoren gute und nicht so gute Nachrichten. Zu Jahresbeginn waren wir der Meinung, dass viele Marktteilnehmer zu pessimistisch sind und die Chancen die Risiken überstiegen. Wir waren entsprechend voll investiert. Nach dem sehr guten ersten Halbjahr 2024 sehen wir die Chancen und Risiken als mehr ausbalanciert an.
In der Diskussion mit Investoren aus Europa ist uns in der jüngeren Vergangenheit eine pessimistische Grundhaltung aufgefallen. Neben all den offensichtlichen Herausforderungen hängt dies auch mit dem relativen Bedeutungsverlust Europas in der Welt zusammen. So hat sich der Anteil Europas an der weltweiten Wirtschaftsleistung in den letzten 30 Jahren beinahe halbiert (von 29% auf 16%).[1] Dies vor allem zugunsten Asiens. Die Gewichte verschieben sich und die Menschen in Europa beginnen den relativen Bedeutungsverlust zu realisieren.
Die globale Verschiebung der Gewichte spiegelt sich auch in den Gewichten des globalen Aktienmarkts (MSCI All Country World Index). Die absolute Dominanz des US-Aktienmarkts zeigt sich mit einem Gewicht von 65%. Dies vergleicht sich mit einem halb so grossen Gewicht der USA vor 30 Jahren, als das japanische Wirtschaftswunder seinen Zenit erreicht hatte. Die Schweiz hat aktuell ein respektables Gewicht von 2.2%, immerhin vor Indien (2.0%) oder Deutschland (1.9%).[2]
Als Hoffnungsschimmer und Insel der Glückseeligen liegt die Schweiz im Herzen Europas. Schauen wir uns die Entwicklungen seit meiner Geburt im Jahr 1977 an: Die Wirtschaftsleistung der Schweiz hat sich seitdem real um +130% gesteigert. Wir leben im Schnitt doppelt so gut wie vor 47 Jahren. Auch die Aktienmärkte sind seit meiner Geburt – im Fall des Schweizer Aktienmarkts real um +1’796% – gestiegen.
Wir gehen davon aus, dass sich die Schweiz und ihre Unternehmen weiterhin gut entwickeln werden. Die Standortfaktoren sind intakt. Solide Staatsfinanzen, Basisdemokratie, Konsensfähigkeit, eine offene und flexible Marktwirtschaft sowie Innovationskraft. Und der starke Schweizer Franken wirkt wie ein Fitnessprogramm für die Wirtschaft, da nur durch Effizienzgewinne und Innovation die Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt.
Auch der Blick nach vorne stimmt positiv.
Die Welt wächst bis auf 10 Mrd. Menschen im Jahr 2060. Gleichzeitig leben Menschen länger. Lag die durchschnittliche, globale Lebenserwartung 1950 bei 45 Jahren, wird diese bis ins Jahr 2100 auf 80 Jahre ansteigen. Auch der allgemeine Wohlstand steigt. Bevölkerungswachstum oder eine höhere Lebenserwartung führen natürlich nicht direkt zu steigenden Aktienkursen, sondern bieten zunächst eine gute Basis für Wirtschaftswachstum.
Investoren müssen einen Spagat meistern zwischen den offensichtlichen aktuellen Herausforderungen und den ansonsten durchaus positiven Wachstums-aussichten. In der Grafik «The Ugly, The Bad & The Good» mit der nicht so eleganten deutschen Übersetzung «das ganz Schlechte, das Schlechte und das Gute» greifen wir einige der Themen auf, die uns derzeit als Investoren bewegen:[3] Staatsschulden, Protektionismus, Innovation und Wachstum. Was heisst das nun für die Einschätzung der aktuellen Lage und für die Portfoliopositionierung?


Von Seepferdchen und Seeigeln
Das Unbehagen aus dem Ruder laufender Staatsfinanzen.
Schulden sind ein elementarer Bestandteil unseres Wirtschaftssystems und weder neu noch per se schlecht.[4] Die entscheidende Frage ist, wofür Schulden aufgenommen werden und ob man sich die Schulden leisten kann. Im Investmentkontext spricht man von der Rendite auf das eingesetzte Kapital.
Gute Schulden nennen wir in unseren Überlegungen «Seepferdchen»: Allseits beliebt und eine Bereicherung für alle. Gute Schulden ermöglichen langfristig wertschaffende Investitionen, Unternehmertum oder Infrastruktur, die durch positive Spillover Effekte für Wohlstand sorgen. Das bekannteste Beispiel ist der 1956 durch Präsident Dwight D. Eisenhower in Auftrag gegebene Bau des Interstate Strassensystems der USA, das den Boom der Wirtschaft innerhalb der USA befeuerte.[5] Dies im Gegensatz zu schlechten Schulden: Reine Konsumausgaben oder Brücken, die ins Nichts führen.
Schlechte Schulden nennen wir in unserer Ausführung «Seeigel»: Sie sind wenig attraktiv, bei Berührung schmerzhaft und breiten sich unbemerkt auf dem Meeresgrund aus, wo sie der umliegenden Meeresfauna lebensnotwendige Ressourcen entziehen. An erster Stelle stehen staatliche Akteure als Schuldenmacher der Nation. Der grösste Fehler im System ist wahrscheinlich, dass Politiker und Beamte für die Schulden nicht in Mitverantwortung gezogen werden (so wie jeder Unternehmer oder Bürger). Dies führt zu einem leichtfertigen Umgang mit Geld. Sie alle kennen genügend Beispiele.
Zu den Fakten. Die Staatsschulden haben sich – von der Berichterstattung der letzten Jahre kaum beachtet – wie eine Seeigelkolonie in den westlichen Industrienationen weiter ausgebreitet. Japan lebt schon sehr lange mit einer enormen Staatsverschuldung. Auch der alte Kontinent ächzt zunehmend unter den Seeigeln. Es piekst in Frankreich: Die staatliche Verschuldung beträgt 111.6% des BIPs. In Italien gehen die Seeigel bei einer Verschuldung von 139.2% des BIPs bald an Land. Auch Deutschland kann sich den Seeigeln nicht entziehen. In den genannten Zahlen sind weder die indirekten Zahlungsversprechen des Sozialstaats (z.B. Pensionsverpflichtungen), noch dringend notwendige Investitionen in Infrastruktur, Gesundheitswesen oder Bildung berücksichtigt. Vor einem Jahr hat dann schliesslich auch die USA ihr AAA-Rating verloren (neu AA+).[6] Der Schuldenanstieg ist astronomisch.
Schuldenberg USA
Entwicklung Staatschulden und BIP der USA, zu aktuellen Preisen, in Mrd. USD


Allein die Zinszahlungen belaufen sich mittlerweile auf 728 Mrd. USD pro Jahr, und bilden den drittgrössten Posten im nationalen Budget.[7] Damit ist das Budget für den Schuldendienst höher als die Ausgaben für das U.S. Militär. Kein Wunder, dass der Goldpreis in USD trotz hoher Zinsen allein im ersten Halbjahr 2024 um +12.8% auf über USD 2’300 pro Unze Gold gestiegen ist.
Hoffnungsschimmer sind rar – Seepferdchen werden vor allem in der Schweiz gesichtet und in Teilen Asiens, wo der Lebensraum für die putzigen Tierchen noch intakter ist.
Protektionismus
Oder für was oder wen es Sinn macht Zäune zu bauen.
Nein – über Migration wollen wir nicht sprechen. Obwohl die Schweiz mit vier Landessprachen und einem Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund von 40% zeigt, wie erfolgreiche Migration und Integration funktioniert. Zugute kommt der Schweiz dabei sicherlich, dass viele Neu-Schweizer mit guter Ausbildung anreisen.
Wir sind uns wohl einig, dass Protektionismus langfristig keine gute Idee ist. Denn wenn eine Industrie global nicht wettbewerbsfähig ist, wird diese über kurz oder lang bedeutungslos. Protektionismus verlängert nur den Prozess und hemmt die Neuausrichtung von produktivem Kapital. Natürlich kann durch Protektionismus der Übergang zu Zukunftstechnologien sozialverträglich abgefedert werden, doch dann muss auch ein konkreter Plan für die Zukunft existieren. Zu gegebenem Anlass hinterfragen wir die «Strategie» der Europäischen Union und der USA in Bezug auf Elektrofahrzeuge. Der Markt für Elektrofahrzeuge wurde mit hohen Subventionen künstlich geschaffen. Nun, da China die Weltmärkte mit günstig produzierten und staatlich subventionierten Elektroautos überschwemmt, werden hohe Strafzölle erhoben. Bis heute ist es uns ein Rätsel, wie insbesondere Deutschland die Sabotage der deutschen Schlüsselindustrie hat zulassen können. Ohne staatliche Eingriffe wäre es niemals so weit gekommen. Der angesprochene, zunehmende Protektionismus trifft manche Branchen härter als andere. Die Automobilindustrie scheint derzeit besonders unter Druck zu sein. Andere Industrien könnten folgen. Wir empfehlen diese Branchen in der Portfoliosteuerung unterzugewichten.
Und wer wissen will, wie sich eine fehlgeleitete Staatswirtschaft mit Protektionismus entwickelt, kann nach Argentinien schauen. Der Niedergang der Wirtschaft stieg mit zunehmendem Protektionismus nur an. Es resultierten ein aufgeblähter Staatsapparat, kaum Investitionsanreize, schwache inländische Industrieproduktion und eine Inflationsrate von +290% pro Jahr.[8]
Es gibt jedoch Fälle, in denen wir Protektionismus als durchaus sinnvoll erachten. Schädliche Phänomene wie Temu, die den Handel akut gefährden und keine in der EU geltenden Qualitätsstandards einhalten, sollte man durchaus sanktionieren.
Alles in allem scheint die Politik fleissig an den Stellschrauben zu drehen, einfach an den falschen.
Innovation
Der Motor unseres Wohlstands läuft weiter
Die Geschwindigkeit von Innovation nimmt zu – vor allem getrieben durch die Verheissungen der künstlichen Intelligenz. Seit dem Start von ChatGPT im November 2022 hat die öffentliche Aufmerksamkeit für künstliche Intelligenz exponentiell zugenommen. Die jüngste Umfrage von McKinsey zum Stand von KI bestätigt das explosive Wachstum generativer KI-Tools.[9] Der Markt für generative KI wird bis 2030 durchschnittlich um geschätzte +40% pro Jahr auf über 1’000 Mrd. USD anwachsen. Ein verheissungsvoller Markt. Im Wettrennen um die Marktdominanz rüsten Unternehmen gewaltig auf. Die damit verbundenen Kosten steigen stark.
Von Asset Light zu Asset Heavy
Investitionen in langfristige Anlagen, pro Jahr, in Mrd. USD


Die mit den Investitionen verbundenen Erwartungen sind hoch. Erste Anwendungsbeispiele von KI Applikationen sind auf dem Markt. Der Co-Pilot von Microsoft ist eine solche Applikation, die Nutzer von Microsoft Office bei der täglichen Arbeit unterstützt. Die Nachfrage ist nach unseren Quellen so hoch, dass Microsoft zusätzliche Serverkapazitäten hat anmieten müssen. Sollten sich die erwarteten Umsätze und Gewinne jedoch nicht so rosig entwickeln wie erhofft, läuft die Technologiebranche Gefahr, sich von einer Asset-Light Industrie zu einer Asset-Heavy Industrie zu entwickeln. Dies bedeutet im Resultat eine niedrigere Profitabilität und würde Bewertungsfragen aufwerfen.
Die nachfolgend aufgeführten Kurs-Gewinn-Verhältnisse zeigen das derzeitige Preisniveau auf.
Bewertungsniveau der Magnificent 7
Aktuelles Kurs-Gewinn-Verhältnis, letzte 12 Monate


Der Enthusiasmus rund um das Thema der Künstlichen Intelligenz ist ungebrochen und durchaus berechtigt. Jedoch sollten wir als umsichtige Investoren hinterfragen, ob dieser Enthusiasmus auch Gefahren birgt. Viele neue Technologien erfahren eine Hype Phase, eine Marktbereinigung und eine Phase nachhaltigen Wachstums, dass durch konkrete Anwendungen und Produkte gestützt ist.
Der KI Hype Cycle
Erwartungen an künstliche Intelligenz, 2023


In Bezug auf die Bewertung der Technologiekonzerne kommt es darauf an, ob auf die hohen Investitionen auch die erwarteten Umsätze und Gewinne folgen. Wer das Rennen um die Marktdominanz gewinnt, ist offen. Daher tendieren wir dazu, den Technologiebereich als mindestens fair bewertet anzusehen.
Fazit
Wie immer in unserem Metier gibt es für Investoren gute und nicht so gute Nachrichten. Zu Jahresbeginn waren wir der Meinung, dass viele Marktteilnehmer zu pessimistisch sind und die Chancen die Risiken überstiegen. Wir waren entsprechend voll investiert. Nach dem sehr guten ersten Halbjahr 2024 sehen wir die Chancen und Risiken als mehr ausbalanciert an.
Die Sorgen um hohe Verschuldungsgrade und einer damit verbundenen möglichen Banken- und Schuldenkrise steigen. Wir empfehlen entsprechend erhöhte Wachsamkeit und einen Plan B zu haben. Die Wahl sicherer Gegenparteien (zum Beispiel Schweizer Depotbanken mit guter Bilanzstruktur oder Staatsgarantie) kann nicht schaden. Auch die Überprüfung der Anlagestrategie vor dem Sturm macht Sinn.
Gleichzeitig dürfen Investoren nicht zu pessimistisch sein. Wie auf hoher See und bei hohem Wellengang ist es bei der Suche nach Orientierung ratsam, den Blick auf den Horizont zu richten. Die Region Nordamerika wächst 2024 (gemäss Schätzung) mit +4.8%, Asien und Pazifik mit +3.9%, Europa mit +3.4% und Südamerika mit +3.1%. Für die Wirtschaft im afrikanischen Raum wird ein Rückgang von -4.1% prognostiziert.[10]
Woher kommt das Wachstum
Erwartetes regionales BIP Wachstum 2024


In unserer strategischen Asset Allokation bevorzugen wir weiterhin Aktien, positionieren uns im Sektormix jedoch etwas defensiver. Wir kaufen selektiv Unternehmensanleihen hoher Bonität und haben die Liquiditätsquote in unseren Kundenportfolien in den letzten Wochen leicht ausgebaut. Gold halten wir weiterhin als Ultima Ratio.
PC
[1] Weltbank Datenreihe BIP zu aktuellen Preisen (2024)
[2] MSCI ACWI Index (28.06.2024)
[3] Aus dramaturgischen Gründen haben wir den bekannten Filmtitel «The Good, The Bad and The Ugly» umgekehrt.
[4] Vergleichen Sie dazu unsere Ausführungen aus dem AK Nr. 6 – «Das Schlaraffenland» zum Thema Schulden und Geldschwemme
[5] Federal Highway Administration (2022)
[6] Fitch Ratings (2023)
[7] Treasury.gov (2024)
[8] Reuters, NZZ, Bloomberg (2024)
[9] “Insights on Artificial Intelligence”, QuantumBlack: AI by McKinsey (2024)
[10] Weltbank Datenreihe BIP zu aktuellen Preisen (2024)